Thalidomid

vor der Wiederzulassung?

Ein außergewöhnliches Treffen der EMEA, der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, fand am Montag, 20. Januar 2003, statt. Erstmals wurden im Rahmen eines Zulassungsverfahrens Vertreter der Thalidomid-Opfer aus Großbritannien, Schweden und Deutschland nach London eingeladen.

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Thalidomid, das in Deutschland unter dem Namen Contergan verkauft wurde und im Hinblick auf seine Nebenwirkungen als besonders sicher galt, verursachte vor 40 Jahren eine der größten Arzneimittelkatastrophen der Geschichte. Die Einnahme des Medikamentes während der Frühschwangerschaft, also in den ersten acht Wochen der Schwangerschaft, führte zu charakteristischen Missbildungen insbesondere an Armen und Beinen, aber auch Augen und Ohren sowie inneren Organen. Im November 1961, vier Jahre nach der Markteinführung, wurde das Medikament erst nach massiven Druck der Presse und Öffentlichkeit von der Firma Chemie Grünenthal vom Markt genommen, nachdem schon seit einiger Zeit Hinweise auf Missbildungen bei Neugeborenen und Nervenschäden bei Erwachsenen mit teilweise irreversibler Taubheit von Händen und Füßen vorlagen. Aber nicht nur die Erkennung des Zusammenhangs von Einnahme und Missbildung, sondern auch die Anerkennung der Schädigung in Form einer Entschädigung dauerte viel zu lange.

Die Aufarbeitung der "Contergan-Katastrophe" hat wesentlich dazu beigetragen, dass die klinische Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln strengeren Richtlinien unterworfen wurde und unter anderem zur Verabschiedung des deutschen Arzneimittelgesetzes im Jahre 1976 führte. Die Geburt von weltweit ca. 10.000 bis 15.000 missgebildeten Säuglingen, mit ca. 5.000 die größte Anzahl in Deutschland, in den Jahren 1958 bis 1963 hat sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten sowie der pharmazeutischen Industrie ein neues Bewusstsein für Nebenwirkungen von Arzneimitteln geschaffen. Die Thalidomid-Embryopathie gilt heute als klassische Beispiel für die Schädigung eines Embryos durch Medikamente. Die Beipackzettel zahlreicher anderer Medikamente warnen ausdrücklich vor der Einnahme während der Schwangerschaft, auch wenn in Tierversuchen im konkreten Fall keine Risiken für den Fötus gezeigt werden konnten.

Vielen der rund 2.600 heute in Deutschland lebenden Contergan-Geschädigten fällt es schwer, ein "normales" Leben zu führen. Trotz überwiegend guter Integration treten neben die psychosozialen Themen zunehmend neue medizinische Probleme auf. So leiden viele Betroffene aufgrund der einseitigen Beanspruchung und atypischer Bewegungen an Folgeschäden, die die Wirbelsäule, Knie- und Hüftgelenke betreffen.

Vor 40 Jahren hätte es wohl niemand für möglich gehalten, dass das Medikament Thalidomid jemals wieder eine Rolle in der Medizin spielen würde. Trotz trauriger Berühmtheit ist der Wirkstoff Thalidomid jedoch zu keinem Zeitpunkt völlig vom Markt verschwunden. Grund war die erfolgreiche Behandlung von Erkrankungen, bei denen etablierte Medikamente wirkungslos blieben. Entzündungshemmende Wirkungen und Effekte auf das Immunsystem erklärten die erfolgreiche Behandlung unter anderem bei Lepra, bei Geschwüren der Mundschleimhaut, bei AIDS, bei der chronischen Abstoßreaktion nach Knochenmarktransplantation (graft versus host Erkrankung) und bestimmten Krebsleiden wie dem Karposi-Sarkom und dem multiplen Myelom (Plasmozytom), einer bösartigen Erkrankung der Plasmazellen. Die Wirkung von Thalidomid wird unter anderem mit der Hemmung der Bildung neuer Blutgefäße (Antiangiogenese), die auch für das Wachstum von Tumoren wichtig sind, erklärt. Die Ansprechrate bei Plasmozytom liegt bei über 30 %, bei wenigen Patienten führt die Thalidomidtherapie zu einer kompletten Rückbildung der Krebserkrankung. Im Jahre 2000 wurde das Medikament von der Amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA, die 1961 erhebliche Bedenken geäußert hatte, erstmals in den USA für die Behandlung des Erythema nodosum leprosum, einer schweren Form der Lepra, zugelassen. Thalidomid ist derzeit in Europa nicht zugelassen, in Deutschland kann das Medikament nur nach ärztlicher individueller Beantragung ("ärztlicher Heilversuch") eingesetzt werden.

Die EMEA prüft derzeit zwei Anträge von Pharmaunternehmen auf die europäische Zulassung für die beschriebene Lepraform sowie das Plasmozytom. Als Arzt und selbst Contergangeschädigter hatte ich im Auftrag des Bundesverbandes der Contergangeschädigten die Möglichkeit, gemeinsam mit Betroffenen aus Großbritannien und Schweden, mit Sachverständigen der EMEA und Vertretern der beiden Unternehmen Pharmion (USA) und Laphal (Frankreich) die Frage zu diskutieren, welche Schutzmaßnahmen im Zuge der Verbotsaufhebung getroffen werden müssten. Die Vertreter der Betroffenen hatten keine grundsätzlichen Einwände gegen den Wiedereinsatz von Thalidomid, auch um damit zu vermeiden, dass kein Schwarzmarkt entsteht. Sie machten aber ihre ernst zu nehmenden Sorgen und Ängste sehr deutlich. Thalidomid bei tatsächlich erwiesenen Indikationen nicht zu geben, würde bedeuten, Patienten nicht zu helfen, obwohl dies möglich wäre. Es wurde jedoch hervorgehoben, dass eine positive Empfehlung der EMEA an die EU-Kommission die höchst möglichen Sicherheitsstufen fordern müsse, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Unter der Berücksichtigung, dass bereits eine Tablette "Contergan" schwerste Missbildungen hervorrufen könne, müssten von Patienten Ärzten und Apothekern strenge Vorschriften eingehalten werden. Die zu erfüllenden Auflagen müssten mit dem Risiko, schwanger zu werden, korrelieren und unter anderem sichere Verhütungsmethoden sowie regelmäßige Schwangerschaftstests beinhalten. Es wurde bei den Beratungen ebenso betont, auf die anderen möglichen Nebenwirkungen von Thalidomid, insbesondere die mögliche Nervenschädigung, hinzuweisen.

Die EMEA hat bisher noch keine definitive Entscheidung getroffen, mit dieser ist aber in den nächsten Wochen zu rechnen. Viele Menschen werden genau beobachten, inwieweit die EMEA ihrer großen Verantwortung gerecht werden wird.

Dr. Ralph Naumann - Oberarzt an der Medizinischen Klinik und Poliklinik I des Universitätsklinikums in Dresden

FAZ vom 29. Januar 2003 - © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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URL: http://www.k-faktor.com/contergan/artikel2.htm | Letzte Änderung: 18.03.2005

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