Die Nachtseite des Wirtschaftswunders

Zum Einschlafen nahm 1961 jeder dritte Deutsche Contergan: Eine Bilanz nach 40 Jahren

Von Carsten Timmermann

Als die Firma Chemie Grünenthal in Stolberg bei Aachen 1957 das Beruhigungsmittel Contergan auf den Markt brachte, da erschien die Welt der deutschen pharmazeutischen Industrie noch in Ordnung. Das sollte sich am 27. November 1961 gründlich ändern, vor jetzt vierzig Jahren, als Grünenthal das Medikament vom Markt nehmen mußte. Auf der Schwelle von den fortschrittsgläubigen Fünfzigern in die ambivalenten sechziger Jahre hat Contergan nicht nur das Vertrauen der Deutschen in die Versprechen der pharmazeutischen Industrie erschüttert. Der größte Arzneimittelskandal in der Geschichte der Bundesrepublik war auch ein entscheidender Faktor für die Herausbildung der politischen Kultur der folgenden Jahrzehnte.

Firmen wie Chemie Grünenthal waren die Motoren des Wirtschaftswunders. Grünenthal wurde 1946 gegründet, als Tochterunternehmen des Aachener Seifen- und Kosmetikherstellers Dalli-Werke. 1947 gelang dem Chef der Grünenthal-Forschungsabteilung, dem Arzt und Chemiker Heinrich Mückter, die Herstellung von Penicillin, dem Wundermittel, das längst zum Symbol für die moderne biomedizinische Forschung und deren Sieg über die großen Seuchen geworden war. Anders als den Hoechst-Chemikern, denen die amerikanischen Besatzer bei der Penicillinherstellung kräftig unter die Arme griffen, gelang das Kunststück Mückter ohne die Hilfe der Besatzungsmacht.

Auf der Suche nach einem zweiten Standbein für die Produktpalette des Konzerns, stellte Grünenthal den Pharmakologen Herbert Keller und den Apother Wilhem Kunz ein, die 1954 in Laborexperimenten den Wirkstoff "Thalidomid" herstellten, der später als Contergan in Deutschland vermarktet werden sollte. Bei Tierversuchen mit der neuen Substanz war zunächst aufgefallen, daß sie auch in hoher Dosis für Labormäuse nicht tödlich war. Die Tiere wurden schläfrig, aber sonst ließ sich keine eindeutige Wirkung feststellen. 1955 beschloß die Geschäftsführung, Thalidomid als besonders sicheres Beruhigungsmittel auf den Markt zu bringen.

Contergan wurde schnell zum umsatzstärksten Schlaf- und Beruhigungsmittel Deutschlands. Seit Oktober 1957 war das Mittel im Verkauf, rezeptfrei. 1961 verkaufte Grünenthal zirka zwanzig Millionen Tagesdosen im Monat, das heißt, daß jeder dritte Deutsche sich mindestens einmal im Monat von Contergan in den wohlverdienten Wirtschaftswunder-Schlaf wiegen ließ. Und nicht nur die Deutschen schliefen mit Thalidomid-Hilfe. Das Mittel wurde fast weltweit vertrieben und in Lizenz hergestellt.

Daß Contergan nicht ganz so nebenwirkungsfrei war wie anfänglich angenommen, zeigte sich schon 1959. Bei Grünenthal trafen die ersten Berichte über zum Teil schwere Nervenschädigungen ein, vor allem bei älteren Leuten, die Contergan über längere Zeit hinweg eingenommen hatten. In Stolberg begann man sich Sorgen darüber zu machen, daß dem Mittel die Rezeptpflicht drohen könnte. Nach einem Spiegel-Artikel ("Zuckerplätzchen forte") im August 1961 brach der Umsatz ein.

Doch es kam noch schlimmer. Grünenthal pries Contergan speziell auch für Schwangere an, und das mitten im Babyboom. In einem Schreiben, das die Firma 1958 an über vierzigtausend Ärzte verschickt hatte, wurde das das Beruhigungsmittel, "das weder Mutter noch Kind schädigt" ausdrücklich gegen "Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Abgespanntsein" in der Schwangerschaft empfohlen. Eine klinische Prüfung mit schwangeren Frauen hatte zuvor nicht stattgefunden. Die Universitätsklinik Bonn hatte diese aus prinzipiellen Gründen abgelehnt.

Die ersten Hinweise, daß Contergan für Mißbildungen bei Neugeborenen verantwortlich sein könnte, erhielten Grünenthal-Mitarbeiter im Frühling 1959. Allerdings handelte es sich hierbei noch um inoffizielle Anfragen. Auch als sich 1961 die Anfragen häuften, war die Firma noch mehr mit der Sicherung des Contergan-Verkaufes beschäftigt als mit der Beschaffung von gesicherten Befunden zu möglichen Kindesmißbildungen.

Mit Tierversuchen zu dieser Frage begannen Mückter und seine Kollegen erst im September 1961. Am 15. November 1961 erhielt Mückter dann einen Anruf des Hamburger Kinderarztes und Humangenetikers Widukind Lenz, der die Rücknahme aller Thalidomid-Produkte aus dem Handel forderte, weil seine Forschungsergebnisse einen Zusammenhang zwischen Kindesmißbildungen und Contergan nahelegten. Lenz wendete sich auch an die Behörden. Grünenthal erklärte sich daraufhin lediglich dazu bereit, auf den Packungen vor einer Einnahme während der Schwangerschaft zu warnen und drohte der nordrhein-westfälischen Gesundheitsbehörde für den Fall eines Verbotes mit einer Schadensersatzklage. Erst ein Artikel in der Zeitung "Welt am Sonntag" am 26. November ("Mißgeburt durch Tabletten?") bewegte die Firma dazu, das Medikament am folgendem Tag aus dem Handel zu nehmen.

Der Fall war damit allerdings noch nicht erledigt, nicht für die Firma und noch weniger für die etwa dreitausend Kinder - ungefähr weitere zweitausend starben gleich nach der Geburt -, die in der Bundesrepublik zwischen 1957 und 1962 mit Mißbildungen an Gliedmaßen, Augen und Ohren und zum Teil an inneren Organen zur Welt gekommen waren, nicht für deren Eltern und für die Patienten mit Nervenschäden. Im Dezember 1961 nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Firmenmitinhaber und acht leitende Mitarbeiter von Chemie Grünenthal auf.

Zur Anklage kam es erst 1968, wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung, zum Teil mit Todesfolge. Die Anklageschrift war 997 Seiten lang und berief sich auf 29 Sachverständige und 352 Zeugen. Es gab über vierhundert Nebenkläger. Die meisten der überlebenden Kinder gingen schon zur Schule, als der Prozeß eröffnet wurde. Der Prozeß fand im Kasino der Grube Anna in Alsdorf statt, weil die Aachener Gerichtssäle zu klein waren. Grunenthal ließ seine Mitarbeiter von insgesamt dreißig Anwälten aus der gesamten Bundesrepublik verteidigen, die nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt waren: für jeden Zweck ein Spezialist; für jede Landesregierung ein Lobbyist. Josef Havertz, der leitende Staatsanwalt, mußte sich mit zwei Kollegen gegen persönliche Diffamierungen durch diese kleine Armee durchsetzen. Später sprach er von der "totalen Verteidigung" der Angeklagten. Die Verteidiger spielten auf Zeit, in der Hoffnung, den Prozeß bis zur Verjährung verschleppen zu können. Im April 1970 kam es zum Vergleich zwischen Grünenthal und den Nebenklägern. Die Firma erklärte sich bereit, einmalig hundert Millionen DM zur Verfügung zu stellen, wenn die Betroffenen im Gegenzug auf alle weiteren Forderungen verzichteten. Das Verfahren wurde daraufhin im Dezember 1970 nach 283 Prozeßtagen eingestellt, wegen Geringfügigkeit des Verschuldens der Angeklagten im Vergleich zur Länge des Prozesses und weil kein öffentliches Interesse an einer weiteren Strafverfolgung bestünde.

Hätte der Skandal verhindert werden können? Im Prinzip ja, lautet das Urteil der Greifswalder Medizinhistorikerin Beate Kirk in ihrem Buch "Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe?". Der Skandal hangelte sich entlang einer Kette von Unterlassungen, Fahrlässigkeiten und Vertuschungen, auf die erst 1976 mit der Verabschiedung eines neuen Arzneimittelgesetzes reagiert wurde. Daß auch bessere Gesetze Probleme mit Arzneimitteln nicht verhüten können, zeigt jedoch der Fall Lipobay in diesem Jahr.

Die Überlebenden des Contergan-Skandals werden uns immer als Contergankinder in Erinnerung bleiben, auch wenn sie inzwischen längst erwachsen sind und zum Teil selbst Kinder haben. Ihre Identität wurde durch den Skandal bestimmt. Sie fielen auf den Spielplätzen der sechziger und siebziger Jahre auf, und für viele eigentlich Unbeteiligte lösten sie eine erste Beschäftigung mit dem Problem Behinderung aus.

Hat der Contergan-Skandal uns also verändert? Er hat in den Westdeutschen das Vertrauen erschüttert, daß nach der totalen Katastrophe des verlorenen Weltkrieges dank der Hilfe der Amerikaner eigentlich nicht mehr viel schiefgehen konnte; in der DDR wurde Thalidomid nie zugelassen. Das Wirtschaftswunder zeigte plötzlich seine Schattenseiten. Allerdings war das Vertrauen, daß alles immer nur besser werden konnte, ohnehin schon angeschlagen. Die ersten Ostermärsche hatten stattgefunden, und viele machten sich Sorgen über die wachsenden Atomarsenale der Supermächte. In den Vereinigten Staaten formierte sich die Bürgerrechtsbewegung, und auch Umweltbewegte taten sich zusammen, aufgeschreckt vom Buch "Silent Spring", in dem die Meeresbiologin Rachel Carson vor der schleichenden Vergiftung der Erde warnte.

Die ambivalente Haltung zum technischen Fortschritt, die sich in den sechziger Jahren Raum brach, war nicht nur neu. Sie knüpfte an romantische Denkmuster an, die sich im neunzehnten Jahrhundert während der industriellen Revolution herausgebildet hatten. Denn mit dem Glauben an den Segen des Fortschritts wachsen auch Zweifel und bei vielen die Angst vor möglichen apokalyptischen Konsequenzen, verbunden mit Sehnsucht nach dem Natürlichen, Authentischen, Unverfälschten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Menschen in Deutschland viel zu sehr mit Fragen des Überlebens beschäftigt, um sich Sorgen über die Schattenseiten des Wirtschaftswachstums zu machen. Erst mit den Erfolgen der deutschen Nachkriegsindustrie kamen auch die Sorgen wieder. Die Ambivalenz ist uns erhalten geblieben, und sie findet sich wieder in den gegenwärtigen Diskussionen um Gentechnik und Embryonenforschung. Fortschritt kann Segen bringen, aber wird dies niemals ohne Nebenwirkungen tun, seien diese ökologischer oder gesundheitlicher Natur. Gegen Rückschläge des Fortschritts helfen nur vernünftige Regeln und eine kontrovers geführte Debatte.

Die Karriere des Wirkstoffes Thalidomid war indes 1961 noch lange nicht zu Ende. Als "Kinosaft" für Kinder, deren Eltern den Abend für sich haben wollen, wird Thalidomid zwar nicht mehr verwendet. Das Medikament hat auf der Suche nach Anwendungen jedoch neue Einsatzfelder gefunden. Schon in den sechziger Jahren wurden Leprakranke mit dem Wirkstoff behandelt, seit Beginn der neunziger Jahre auch Aids-Patienten. Trotz Warnungen und verschärfter Sicherheitsvorkehrungen gibt es in Brasilien auch wieder Contergankinder.

FAZ vom 25. November 2001 - © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

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URL: http://www.k-faktor.com/contergan/artikel8.htm | Letzte Änderung: 30.12.2006

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