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Maria Sibylla Merian

Metamorphosen des Lebens

Dieter Kühns Biographie der Naturkundlerin Sibylla Merian

von Rolf-Bernhard Essig

In der Regel hat Pascal Recht: «Was den Menschen am meisten interessiert, ist der Mensch.» Doch bei Maria Sibylla Merian (1647-1717) könnte man daran zweifeln: «Die Raupen sind von träger und langsamer Art, und wenn man sie berührt, bleiben sie auf der Stelle, selbst wenn man sie zu Tode drücken würde . . . Am 16. Juli aber sind dunkelblaue Sommervögelein herausgekommen, die, wenn man sie an der Seite hält, einen sehr schönen Glanz haben.»

«Die Raupenfrau» nennt Merians Biograph Dieter Kühn sie ganz zutreffend. Mit Raupen umgibt sie sich mehr als ein halbes Jahrhundert, versorgt und beobachtet sie, tötet und seziert sie, reist mit ihnen, zeichnet sie, malt sie, sammelt sie und lässt sie sammeln durch einen «Raupensammlerring», zu dem fast alle ihre Bekannten und Freunde gehören. Wer sie besuchte, musste keine Verlegenheit fürchten, wenn es um ein Gastgeschenk ging: Raupen hiess sie immer willkommen. - Als Tochter von Matthäus «Topographia» Merian und Stieftochter des Malers Jacob Marrell erlernt sie früh das künstlerische Handwerk. Mit ihrem Ehemann Johann Andreas Graff zieht sie nach Nürnberg, veröffentlicht dort ihr erstes «Raupenbuch», das ihr einen Namen verschafft. Nach der Trennung von Graff zieht sie zurück zu ihrer Mutter nach Frankfurt und mit ihr für fünf Jahre in eine pietistische Kommune in den Niederlanden. Als geschiedene Frau siedelt sie sich mit ihren Töchtern in Amsterdam an, betreibt Handel, malt weiter und unternimmt dann im Alter von 52 Jahren eine Reise nach Surinam, dem niederländischen Guayana. Von 1699 bis 1701 hält sie sich mit ihrer ältesten Tochter dort auf und beobachtet die Insektenwelt. Das mörderische Klima und eine Malariaerkrankung zwingen sie zur Rückkehr. Die Frucht der Reise ist ihr berühmtestes Werk, «Metamorphosis insectorum surinamensium», dessen kolorierte Fassung - ähnlich wie die beiden Teile des «Raupenbuches» - in Postkarten bis heute präsent bleibt.

Biographie einer Epoche

Merian ist nicht nur keine Unbekannte, in den letzten Jahren kam es sogar zu einer kleinen Merian-Konjunktur: Zehn Jahre lang prangte sie auf dem 500-DM-Schein, Ausstellungen rückten sie in ein neues Licht, Bücher erschienen, und nun legt Dieter Kühn eine epochale Biographie vor. Das Adjektiv bietet sich zwanglos an, denn diese Lebensgeschichte greift - in angenehm wandelbarer Sprache - weit aus in die Kultur des Barock.

Beachtlich ist die Kühnheit des Verfassers, der dem Leser in detailfreudiger Genauigkeit 650 Seiten und Dutzende Abwege sowie Reflexionen über das Schreiben von Biographien, über seine persönlichen Wandlungen, Erfahrungen und Erkenntnisse zumutet. Mit ein Grund für diese Zumutungen ist der Mangel an Lebenszeugnissen Merians. Doch selbst aus der Not macht der Biograph eine Tugend, indem er mögliche Bildquellen imaginiert, indem er durch genaue Beschreibung des Umfelds die Konturen Merians indirekt zeichnet.

Kühns explizit subjektive Herangehensweise beruht - wie seine vorsichtigen Hypothesen - auf gründlichem Quellenstudium (leider fehlen Literaturverzeichnis, Register, Zeittafel), auf Autopsie der Bilder und auf Ortsterminen. Sie ermöglicht ihm, das modische Image der genialen Künstlerin und Entomologin als Projektion zu entlarven: «MSM», wie er sie manchmal nennt, steht in physikotheologischer Tradition und verstand sich selbst explizit als Naturbeobachterin, nicht als Forscherin. Kühn stellt klar, dass Merian sich früh spezialisierte, auf Raupenbetrachtung und -darstellung eben, dass ihre künstlerische Qualität und Genauigkeit von vielen übertroffen wurde. Um das zu beweisen, benötigt er Umwege, auf denen der Leser sehr viel über andere Künstler, Wissenschafter, Techniken, den Kunstmarkt und das 17. Jahrhundert überhaupt erfährt.

Hier spintisiert also niemand von «seiner» Merian. Im Gegenteil! Kühn betont die zeitliche, persönliche, kulturelle Distanz. Seine Rolle als Medium macht dem Leser die Fremdheit dieses Lebens und seiner Umstände sinnfällig, indem er ihn teilhaben lässt an den Mühen der Recherche, an den Freuden des Findens, an den Desillusionierungen: So brach sich Merian keineswegs, wie Kühn und mancher Leser erwartete, mit der Machete Bahn durch den südamerikanischen Urwald, sondern hielt sich in ihrer Zeit in Surinam fast ausschliesslich in Städten auf und beobachtete die Insektenwelt der nahen Plantagen und Gärten. Sie protestierte nicht gegen Sklaverei, sondern fuhr auf einem Sklavenschiff und besass selbst Sklaven.

Künstlerin und Unternehmerin

Kühn macht deutlich, wie abenteuerlich trotzdem die Reise der unverheirateten und - für die Zeit - alten Frau war, wie vielseitig Merian als Künstlerin und Unternehmerin lebenslang bleiben musste, um sich und ihre Familie zu ernähren. Und sein Bekenntnis, dass die Beschäftigung mit dieser Frau sein Leben beeinflusste, ihm die Augen öffnete für Mimikry und Ökologie, für das Hornissennest unterm Dach und das überwinternde Tagpfauenauge, bietet dem Leser eine reizvolle Verbindung zu Merian an.

Manchmal allerdings prahlt Kühn mit seiner modernen Art der Lebensbeschreibung, denn neben traditionellen Biographien gab und gibt es längst neue Formen, so Dieter Hildebrandts Lessing-Buch (1979) oder Barbara Beuys' Droste- Hülshoff-Biographie (2000) oder Kühns eigene Wolkenstein-Annäherung. So mag mancher Leser die Selbstreflexion des Biographen als aufdringlich oder eitel empfinden und mag sich dabei gegängelt fühlen. - Doch sollte man bedenken, dass der Autor hier nur offenlegt, was sonst im Verborgenen stattfindet, dass sein Vorgehen Methode und Sinn hat: Persönliche Abschweifungen, Reflexionen verlangsamen beispielsweise die Lektüre und nähern unser Tempo damit dem des 17. Jahrhunderts an. Kühns Position zwischen Leser und biographischem Objekt dient als Hemmung gegen vorschnelle Identifikation und als Transmission zwischen Zeiten und Kulturen. Vielleicht genügt es, den Wunsch zu beherzigen, der sich am Ende von Merians zweitem «Raupenbuch» findet: «Die Augenlust recht zu geniessen, / lass dich, oh Leser, nicht verdriessen, / Dass du nicht urteilst zu behend: / Lies mich von Anfang bis zum End.»

Dieter Kühn: Frau Merian! Eine Lebensgeschichte. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 649 S., Abb., Fr. 43.50.

(Neue Zürcher Zeitung vom 13. April 2002)
© Neue Zürcher Zeitung AG

Interessante weiterführende Links:

Maria Sibylla Merian (1647 - 1717)
Lebenslauf der Forscherin und Künstlerin mit Ausschnitten ihrer Werke. Im Mittelpunkt steht ihr 1705 veröffentlichtes Hauptwerk "Metamorphosis insectorum Surinamensium" mit zahlreichen Abbildungen tropischer Pflanzen und Insekten.

URL: http://www.k-faktor.com/frankfurt/merian2.htm | Letzte Änderung: 18.03.2005

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