W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber.
Dies zeigt sich besonders deutlich in der so gänzlich verschiedenen Art, wie Mann und Weib ihren Eintritt in die Periode der Geschlechtsreife erleben. Beim Manne ist die Zeit der Pubertät immer krisenhaft, er fühlt, daß ein Fremdes in sein Dasein tritt, etwas, das zu seinem bisherigen Denken und Fühlen hinzukommt, ohne daß er es gewollt hat. Es ist die physiologische Erektion, über die der Wille keine Gewalt hat; und die erste Erektion wird darum von jedem Manne rätselhaft und beunruhigend empfunden, sehr viele Männer erinnern sich ihrer Umstände ihr ganzes Leben lang mit größter Genauigkeit. Das Weib aber findet sich nicht nur leicht in die Pubertät, es fühlt sein Dasein von da ab sozusagen potenziert, seine eigene Wichtigkeit unendlich erhöht.
Der Mann hat als Knabe gar kein Bedürfnis nach der sexuellen Reife; die Frau erwartet bereits als ganz junges Mädchen von dieser Zeit alles. Der Mann begleitet die Symptome seiner körperlichen Reife mit unangenehmen, ja feindlichen und unruhigen Gefühlen, die Frau verfolgt in höchster Gespanntheit, mit der fieberhaftesten, ungeduldigsten Erwartung ihre somalische Entwicklung während der Pubertät. Dies beweist, daß die Geschlechtlichkeit des Mannes nicht auf der geraden Linie seiner Entwicklung liegt, während bei der Frau nur eine ungeheuere Steigerung ihrer bisherigen Daseinsart eintritt.
Aus der Kindheit werden durch eine positive Bewertung von ihrem Gedächtnis nur die sexuellen Momente herausgehoben, und auch diese sind im Nachteile gegenüber den späteren unvergleichlich höheren Intensifikationen ihres Lebens - welches eben ein Sexualleben ist. Die Brautnacht endlich, der Moment der Defloration, ist der wichtigste, ich möchte sagen, der Halbierungspunkt des ganzes Lebens der Frau. Im Leben des Mannes spielt der erste Koitus im Verhältnis zu der Bedeutung, die er beim anderen Geschlechte besitzt, überhaupt keine Rolle.
Die Frau ist nur sexuell, der Mann ist auch sexuell.
(Otto Weininger, 1903)
* 03.04.1880 Wien, † 04.10.1903 Wien
Kulturphilosoph; entstammt einer jüdisch-ungarischen Familie. Ab 1898 studiert Weininger an der Universität Wien Philosophie und Psychologie. Zu seinen akademischen Lehrern gehören die Philosophen Lorenz Müllner und Friedrich Jodl. 1900 beginnt Weininger mit der Ausarbeitung seines Buches »Geschlecht und Charakter« und reicht 1902 die Arbeit als Dissertation ein. Im Juli 1902 konvertiert Weininger zum Protestantismus. Am 4. Oktober 1903 stirbt er von eigener Hand.
Weiningers Buch »Geschlecht und Charakter«, in dessen Mittelpunkt die Geschlechterproblematik steht, zählt zu den klassischen Dokumenten der Wiener Moderne.
URL: http://www.k-faktor.com/schreker/weininger.htm | Letzte Änderung: 04.03.2006
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